Pädagogisches Konzept

Seit seiner Gründung verfolgt der Circus Calibastra die Zielsetzung, einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen – unabhängig von deren Förderbedarf oder deren sozial-emotionaler Entwicklungsstufe – zu leisten. Über die körperliche und seelische Stabilisierung der Heranwachsenden wird ein gesundes Selbstwertgefühl aufgebaut. Die künstlerischen Begegnungsräume öffnen die Wahrnehmung der Selbstwirksamkeit und zugleich werden soziale Fähigkeiten innerhalb einer Gruppe entwickelt, geschult und als unabdingbare Basis menschlichen Zusammenlebens etabliert. Neben der fachlich-artistischen Expertise der LehrerInnen, TrainerInnen und ChoreographInnen steht daher stets die pädagogische Anleitung und Begleitung im Mittelpunkt des Projekts. Seit weit über drei Jahrzehnten wird im Circus Calibastra ein enormes Wissen zu dem inzwischen eigenständig etablierten Gebiet der Zirkuspädagogik weiterentwickelt, präzisiert und mit anderen pädagogischen Fachgebieten verknüpft.

Akrobatik

Akrobatik ist der Überbegriff für eine Vielzahl von Circus-Disziplinen, die sich alle durch eine Verbindung koordinative Geschicklichkeit und Kraftaufwendung auszeichnen. Dazu gehören klassisches Bodenturnen, Trampolinspringen, statische Partner- und dynamische Wurfakrobatik (Equilibristik), der Bau von Menschenpyramiden sowie Luftakrobatik (die sich wiederum in Trapez-, Strapaten- sowie Vertikaltücher- und Seilkünste u.a. unterteilen lässt). All diesen Disziplinen ist es grundsätzlich gemein, dass sie sowohl als Solo- oder Paarnummern wie auch in Klein- und Großgruppen zur Aufführung gebracht werden können.

Akrobatische Disziplinen zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass Geschicklichkeit und Kraft über einen längeren Zeitraum beharrlich erarbeitet – und dabei viele Hochs und Tiefs überwunden –  werden müssen; vielmehr kommt es auch darauf an, dass die vorhandenen Kräfte und Fertigkeiten so effizient wie möglich, d.h. zum richtigen Zeitpunkt und an der richtigen Stelle, eingesetzt werden, sodass sich die Potenziale mehrerer Menschen gegenseitig ergänzen. Während Luft- und Wurfakrobatik häufig fortgeschrittene turnerische Grundlagen benötigt, ermöglicht der Pyramidenbau einen niederschwelligen Einstieg, bei dem bereits ohne langjähriges Üben erste Erfolgserlebnisse zu erzielen sind. Während für jüngere und unerfahrene TeilnehmerInnen noch der spielerische Charakter der akrobatischen Übungen beim Erlernen motorischer, koordinativer und kognitiver Fähigkeiten in der Großgruppe im Mittelpunkt steht, rückt bei Jugendlichen und erfahreneren Artisten dann der Aspekt des Kraftaufbaus, der Leistungssteigerung allgemein, sowie der persönlichen Herausforderung anhand konkreter Zielsetzungen in den Fokus des Trainings.

Jonglage und verwandte Disziplinen

Das Jonglieren mit Bällen, Ringen und Keulen (wie auch das Keulen-Swingen, Diabolo, und Devil-Stick u.a.) fordert und fördert in höchstem Maße das Erlernen von Handgeschicklichkeiten. Das charakteristische Moment dieser Künste ist der Rhythmus zwischen Werfen und Fangen, zwischen Loslassen und Festhalten. Die Grundfrage lautet dabei, ob es gelingt, seine Bewegungen dem spezifischen (Flug-)Rhythmus des Jongliergerätes anzupassen und sich mit seinen Körperbewegungen in diesen Rhythmus einzufühlen. Erst wenn das Bewusstsein im richtigen Moment die Hände in der richtigen Weise dirigiert, kann die Aufgabe gelingen. Alles Üben hat den Zweck, die Vorstellung im Bewusstsein zu klären und sodann umzusetzen.

Jonglierkünste schulen die Konzentrationsfähigkeit, steigern Wahrnehmungs- und Reaktionsvermögen, schaffen eine komplexe Raumvorstellung und ein bewegliches Bewusstsein.  Erst durch eine hinreichend ausgeprägte Selbstwahrnehmung können Bewegungsformen entwickelt und perfektioniert werden. Selbstdisziplin und Fleiß sind erforderlich, um gesteckte Ziele zu erreichen. Der Körper wird zu einem Werkzeug geschult, welches der Selbstwirksamkeit zur Entfaltung hilft. Im Rahmen der Paar- und Gruppen-Jonglage werden sodann die zunächst individuell erlernten Fähigkeiten dem Rhythmus und den Fertigkeiten der Anderen angepasst. Das gemeinsame Jonglieren führt nicht nur zu einem Erfolg in der Manege, sondern eröffnet einen interaktiven Austausch, mit dem öffentliche Räume gruppendynamisch zurückgewonnen und erschlossen werden können.

Balancieren

Die Balancierkünste im Circus Calibastra umfassen Einradfahren, Stelzenlaufen, Rola-Bola und Drahtseillaufen. Allerdings finden sich auch bei den bereits vorgestellten Disziplinen Akrobatik und Jonglage viele balancierende Elemente.

Die Faszination der Balance geht nicht von dynamischen und spektakulären Bewegungen aus, sondern entsteht in der zur Ruhe gekommenen Bewegung. Erfolgreiches Balancieren endet immer mit einer inneren Ruhe und Ausgeglichenheit. Ziel ist es, die Mitte zu finden, um das gewählte Gerät ruhig und souverän zu beherrschen. Die Erlebnisqualitäten beim Balancieren entstehen durch die Überwindung von Polaritäten hin zu dem erhabenen Gefühl des Ausgleichs.

Mit zunehmender Sicherheit auf dem Seil oder auf schwankenden Gegenständen stellt sich ein Gefühl der Harmonie und der Befreiung ein, welches eine stabilisierende Wirkung auf den Artisten in Raum und Zeit nicht nur während der Übung selbst, sondern auch für sein ganzes Leben entfalten kann. Raumgefühl und Körperbeherrschung werden entwickelt und bis zur Perfektion geübt, wenn an der Stellung der Gelenke, am Muskeltonus und an der visuellen Wahrnehmung gearbeitet wird, um Gleichgewicht zu erlangen. Konzentrationsfähigkeit ist gefordert, bis der Artist gelernt hat, durch viele kleine Bewusstseinsakte das Gewicht der Glieder so zu ordnen, dass es sich in einem ausgeglichenen Verhältnis um die Schwerelinie herum verteilt.

Improvisation & Clownsspiel

Clownerie umfasst alle Dimensionen des Menschseins. Es fördert den Spielenden in Wahrnehmung und Ausdruck seiner körperlichen, emotionalen, kommunikativen, kognitiven Fähigkeiten und seinen handelnden Umgang mit der Welt.

Das große, körperliche, unmittelbare, authentische, anarchische Spiel im Hier und Jetzt hat nicht nur das Potential, sprachliche und kulturelle Barrieren zu überwinden, sondern fordert auch die Authentizität des Spielers kompromisslos: Der Spieler entdeckt sich selbst als Universum in der Nussschale, in jedem Moment des improvisatorischen clownesken Handelns entsteht eine unendliche Fülle an individuellen, szenischen Möglichkeiten. Clownerie ist nicht nur auf Slapstick oder klassische Formate beschränkt, sondern kann vor allem in kontemporärer Form, als künstlerisches Medium mit allen Inhalten, gesellschaftskritischen, politischen und künstlerischen Themen umgehen.

Die intensive Beschäftigung mit der eigenen Persönlichkeit einerseits, sowie die bis ins Übersteigerte ausgedehnten Wahrnehmung der Umwelt andererseits, bilden die Erlebniswelt der vielfältigsten Arten der Improvisationstechniken und des Clownsspiels. Weil der Clown mit aller Naivität und Positivität nach jedem Fehlschlag immer wieder von vorne anfängt, stellt er die Kraft dar, die auch in Kindern wirkt, wenn sie unermüdlich etwas Neues erlernen wollen. In der Rolle des Clowns sind den Kindern bzw. Jugendlichen Dinge erlaubt, die sie sonst nicht tun dürften oder sich nicht trauen würden. So ermöglicht die Clown-Rolle, Grenzen zu überschreiten, aus dem Anpassungsverhalten herauszutreten, die Normalität hinter sich zu lassen und Neues zu entdecken. Der (emotionale) Spiegel, in den die Clowns wieder und wieder schauen müssen, hilft ihnen bei der allmählichen Selbstakzeptanz in Relation zur Gesellschaft und somit der Stärkung ihres Selbstwertgefühls. Durch Humor und ironische Theatralik werden emotionale Krisen bewältigt. Durch das seelische Erleben und Verarbeiten der Lebenssituationen wird die Welt in der Clownerie zugleich von innen heraus ergriffen, vermenschlicht und individuell gestaltet.

Eine besondere pädagogische Qualität entwickelt die Arbeit im Circus Calibastra, da seit jeher die theatralischen und clownesken Elemente mit den artistischen Leistungen zu einem circensischen Gesamtprojekt verbunden werden. Wir sind kein Nummerncircus, sondern erzählen immer auch eine Geschichte. Dies hat mehrere Gründe:

(1) Die Verbindung aller artistischen Nummern mittels einer theatralischen Geschichte ist nicht nur für die Zuschauer bei den Aufführungen interessanter und mitreißender, sondern ermöglicht es den regieführenden Pädagogen, die unterschiedlichen Leistungsniveaus der teilnehmenden Schüler verschiedener Altersgruppen, sowie sozialer, kognitiver, sprachlicher und koordinativer Entwicklungsstufen, ohne Schwierigkeiten zusammenzufügen und damit den heranwachsenden ArtistInnen die Befriedigung der Präsentation seiner/ihrer ganz spezifischen erlernten Fähigkeiten zu bieten.

(2) Darüber hinaus entsteht durch ein solches Gesamtkunstwerk ein viel engeres Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der „Zirkusgemeinde“ und stärkt dadurch im Sinne des Inklusionsgedankens die zwischenmenschliche Interaktion auch und gerade bei Kindern unterschiedlicher soziokultureller Herkunft.

(3) Nicht zuletzt prägt die Erschaffung eines Zirkustheaterstücks die ästhetische und künstlerische Erziehung Heranwachsender. Wer als Kind oder Jugendlicher Teil eines solch intensiven Entstehungs- und Gestaltungsprozesses war, der aus artistischen Nummern, einer clownesk dramatischen Handlung, der musikalischen Begleitung, sowie der Wirkung der Beleuchtungseffekte auf Kostüme und Manege sowie dem mitfiebernden Publikum ein Gesamtkunstwerk geschaffen hat, erfährt Selbstwirksamkeit im gruppendynamischen Prozess par excellence.